Ich bin ja eigentlich ganz pflegeleicht, ich möchte gar nicht viel – einfach nur geradeaus gehen, nur einen Fuß vor den anderen setzen. Ich brauche keine geteerte Straße, keinen Schotterweg, nicht einmal einen Trampelpfad, nur den Raum, um geradeaus gehen zu können. Also gehe ich, Schritt für Schritt, doch was passiert dann? Direkt vor mir taucht eine tiefe Schlucht auf, mitten in der Landschaft und erstreckt sich zu beiden Seiten, so weit das Auge reicht. Und jetzt muss ich stehenbleiben und eine Entscheidung treffen: gehe ich nach links oder nach rechts weiter? Eigentlich will ich doch nur geradeaus gehen…
Aber das ist nun mal nicht möglich. Ich muss eine der beiden Richtungen wählen und hoffen, dass sie mich zu einer Lösung führt. Gibt es links vielleicht eine Brücke? Oder liegt sie eher rechts? Oder ist in beiden Richtungen eine? Welcher Weg ist dann wohl der kürzere? Vielleicht gibt es auch nirgends eine und ich laufe endlos an der Schlucht entlang? Dabei weiß ich doch genau, wohin ich gehen will – nämlich geradeaus…
Da stehe ich und stehe ich und überlege und wäge ab, aber alle meine Bemühungen ändern nichts an der Tatsache, dass ich mich entscheiden muss. Für den einen oder den anderen falschen Weg, während ich den richtigen zwar kenne, aber nicht beschreiten kann. Und dann wende ich mich langsam nach links, den Blick immer zur anderen Seite der Schlucht gewandt, um die richtige Richtung im Auge zu behalten, und gehe weiter und weiter, immer langsamer und langsamer, bis ich stehenbleibe. Ich sehe mich um, überlege, ob ich die richtige Wahl getroffen habe. Aber was hilft es, immer auf denselben Metern hin und her zu laufen, also gebe ich mir einen Ruck und gehe beherzt vorwärts, Schritt für Schritt und freue mich, endlich auf meine Entscheidung zu vertrauen. Immer weiter und weiter gehe ich, gelegentlich über die Schlucht zur anderen Seite blickend und auf eine Brücke wartend, stundenlang, tagelang, wochenlang. Und während ich trotzdem immer noch weiter und weiter gehe, kommt aus der Ferne eine Person auf mich zu. Erst freue ich mich darüber, endlich jemandem zu begegnen, dann kommt eine leise Vorahnung auf, die eine dunkle Wolke in meine Gedanken schiebt. Und je näher wir uns kommen, umso klarer wird uns beiden, dass wir auf derselben Suche sind und unser bisheriger Weg umsonst gewesen sein könnte. Zweifel kommen auf, ob auf meinem gewählten Weg überhaupt eine Brücke existiert. Soll ich umkehren, die ganze Distanz noch einmal zurücklegen? Mein Glück doch lieber in der anderen Richtung versuchen? Und vielleicht nicht nur Wochen, sondern Monate oder Jahre weiterlaufen? Und möglicherweise wieder auf einen entgegenkommenden Suchenden treffen? Ich sehe mein Gegenüber an und finde dieselbe Resignation und Verzweiflung, die mich befällt, auch in seinen Augen.
Doch dann höre ich Schritte. Schnelle Schritte. Sie kommen aus der Weite, bewegen sich auf die Schlucht zu. Wir sehen beide nach links und beobachten den Läufer, der sich ungebremst dem Abgrund nähert. Und während wir rufen und mit dem Armen wedeln, setzt er weiterhin ungerührt einen Sprung an den anderen, bis zur Kante, und während unsere Herzen einen Schlag aussetzen, stößt er sich ab und fliegt über die Schlucht.
Mit offenen Mündern stehen wir da, während der Läufer seinen Weg auf der anderen Seite fortsetzt. Vorsichtig nähern wir uns der Kante und werfen einen Blick in das klaffende Loch. Und dann legt sich ein Lächeln auf mein Gesicht – denn auf einmal wird mir bewusst, dass ich nicht ein Leben lang an der Kante auf und ab hetzen und suchen muss, sondern dass ich genau hier meinen Weg fortsetzen kann. Und dann lasse ich mich nieder, genieße die Sonne in meinem Gesicht und erhole mich von meinem langen Weg.
Irgendwann werde ich den Mut haben, Anlauf zu nehmen.
Vielleicht morgen.