Objektivität ist relativ

So schnell kann es gehen – kaum wagt man sich in eine andere Richtung, schon ist man nicht mehr zurechnungsfähig, hat den Überblick verloren.
Sagt wer? Der, der den Überblick hat?
Jeder, der behauptet, irgendetwas objektiv sehen zu können, stellt doch schon in diesem Moment wieder eine subjektive Sicht dar – es sei denn, der Rest der Welt ist geschlossen seiner Meinung. Irgendwie ist es ja auch völlig sinnlos, an die Möglichkeit menschlicher Objektivität zu glauben, wenn es schon allein aufgrund der genetischen Voraussetzungen keine einheitliche Grundlage gibt. Und dann kommen noch die Faktoren Erziehung, Prägung, Erfahrung dazu. Geschlecht. Nationalität. Sozialstatus. Eine endlose Liste.

Kann man denn überhaupt eine freie, objektive Entscheidung treffen? Eine allgemeingültige, meinungsfreie Richtlinie erstellen? Ich behaupte, nein. Sie wird immer von persönlichen Neigungen beeinflusst sein, die uns vielleicht oder wohl eher ziemlich sicher nicht einmal bewusst sind. Von vielen kleinen Bausteinen unserer Existenz, die uns und unsere Persönlichkeit erst ausmachen. Und aus dieser Sicht wäre es schon fast Selbstverrat, eine absolute Objektivität anzustreben.

Warum glauben dann trotzdem so viele Menschen, sie seien objektiv, könnten anderen den „richtigen“ Weg zeigen? Sicher, manche Menschen sind tatsächlich dazu fähig, eine Situation mit einem weiteren Blickwinkel zu betrachten, als andere. Aber deswegen den Besitz des 360°-Rundumblicks für sich zu beanspruchen, finde ich etwas anmaßend, denn dazu ist wohl kein Mensch auf dieser Erde im Stande. Vielmehr ist es doch so, dass wenn wir bei Differenzen von unserem Gegenüber Objektivität verlangen, wir eigentlich die Entscheidung erwarten, unsere subjektive Meinung höher zu werten als die eigene. Vielleicht sollten wir uns in so einer Situation vor Augen führen, dass es eher selten vorkommt, dass Menschen eine Überzeugung vertreten, von der sie wissen, dass sie falsch ist. Jeder Mensch hat seine eigene Sicht der Dinge, die für ihn persönlich auch der Wahrheit entspricht – aus verschiedensten Gründen. Objektiv ist sie sicher nicht, kann sie auch gar nicht sein. Nicht, solange man nicht alles kennt, alles weiß und alles erklären kann.

Und zwar aus der Perspektive seines Gegenübers. Denn erst dann hat man verstanden, dass es unzählige parallele Wahrheiten gibt und jede davon eine eigene Betrachtungsweise erfordert, um sie zu verstehen. Objektivität bedeutet in diesem Zusammenhang also, in alle subjektiven Sichtweisen eintauchen zu können und eben nicht nur eine davon, die eigene,  zuzulassen. Wie diese einzelnen Betrachtungen dann letztendlich gewertet werden, steht auf einem anderen (subjektiven) Blatt.

Und für alle, die der Meinung sind, dass Dinge nur richtig sind, wenn es eine beweisende Studie oder eine Mehrheit dazu gibt, habe ich noch einen Denkanstoß:

Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben.

André Gide

2 Kommentare zu „Objektivität ist relativ“

  1. Erstaunlich. Fast genau die gleichen Gedanken habe ich vor ein paar Tagen in einer Diskussion geäussert als jemand seine „objektive Wahrheit“ meiner „subjektiven Sichtweise“ überordnen wollte. Ich weiss in solchen Situationen, wenn das Gegenüber das beharrlich so empfindet, manchmal nicht, ob ich darüber lachen oder weinen soll. Meiner Meinung nach disqualifiziert sich von Objektivität schon, wer die eigenen Subjektivität verleugnet (unbenommen, ob nur anderen oder auch sich selber gegenüber).

    Es tut gut, deine Gedanken zum Thema zu lesen. Ich fühlte mich in jener Diskussion so auf verlorenem Posten.

    1. Schön, dass Du das auch so siehst und Deinem Kommentar kann ich nur zustimmen! Ich frage mich in solchen Situationen oft, was genau diese Menschen von mir denken – unterstellen sie mir Dummheit oder Verblendung? Beides ist nicht besonders schmeichelhaft. Erfahrungsgemäß erfassen solche Gesprächspartner aber gar nicht die Tragweite ihres Verhaltens, weil sie sich ihre Meinung nie aktiv selbst gebildet und erarbeitet haben, sondern einfach einer Mehrheit folgen, die sie für sich als Wahrheit definiert haben. Dann hat man mit einer „Einzelmeinung“ natürlich wenig Chancen.

      Umso schöner ist es, Menschen zu begegnen, die über ihren Tellerrand gucken und sich wirklich auf eine Gegendarstellung einlassen – das bedeutet ja schließlich nicht, seine Meinung aufzugeben und ist immer sehr bereichernd.

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